Theaterreise nach Helsingør




Manchmal bekommt man Geschenke, mit denen man nie gerechnet hätte. So geschah es im Herbst 2021, frisch nach meinem Umzug nach Rostock. Ich ging zum Briefkasten und fand darin einen hübschen Brief von meiner damaligen Online-Theatergruppe, die gerade frisch ihre Aufführungen hinter sich hatte. Ich hatte mich von der Gruppe verabschiedet, weil ein großer Wunsch zur analogen Arbeit da war, ich aber wusste, dass das von Rostock aus in regelmäßiger Weise eher schwierig wird.
Unerwarteter Weise hatte die Gruppe ein Abschiedsgeschenk für mich organisiert, das ich nun in den Händen hielt: Ein Gutschein für das Theaterfestival Hamletscenen. In Dänemark. Ich war sehr gerührt, verblüfft und total überfordert. Dänemark???
Ich muss da ja erstmal hinkommen und dort eine Unterkunft finden. Dänemark ist ein teures Land, also wird das ganz schön viel Geld kosten. All das ratterte durch meinen Kopf. Und dann kam ehrlich gesagt der Gedanke, den Gutschein vielleicht an eine*n Kollegen/*in weiterzugeben, die/der reisefreudiger ist als ich. Die nächsten Monate fragte ich immer mal andere Theaterschaffende, aber niemand war interessiert.

Der Gutschein stand derweil geduldig im Regal und lächelte mich freundlich an. Anfang dieses Jahres gab ich mir einen Ruck und nahm die Challenge an.
Ja, ich reise nicht so gern. Ja, ich war noch nie allein im Ausland im Urlaub. Ja, es kostet viel Geld. Aber ja, ich werde es machen. Also habe ich ab Jahresanfang Geld gespart und mir ein Hotel und eine Zugfahrt gebucht, endlich ein neues Girokonto mit Visa-Karte eröffnet und mein ungelesenes "Hamlet"-Buch aus dem Regal geholt. Ich habe mir eine Jahreskarte für den Gutschein gekauft (da ich allein fuhr, brauchte ich ja nur ein Ticket) und mich innerlich eingestimmt.

An dieser Stelle ein Dankeschön für dieses krasse Geschenk, liebe Theatergruppe! Bitte nicht nochmal schenken 😉, aber ich hatte eine schöne Zeit in Helsingør.

Der Festivalzeitpunkt bestimmte die Reisezeit und meine Termine den genauen Reisezeitpunkt. Somit war klar, dass an den Tagen, an denen ich dort sein werde, beim Hamletscenen-Festival Shakespeares "Der Sturm" (auf Dänisch "Stormen") laufen wird. Da ich das Stück mit der Theatergruppe Vorspiel selbst schon inszeniert habe (guckt mal hier: https://www.facebook.com/media/set/?set=a.1936562896357258&type=3), störte es mich auch nicht, dass die Inszenierung auf Dänisch ohne Untertitel laufen wird.

Wie es immer ist, war der August dann plötzlich da, die Zeit war einfach verflogen.
Ich hab eine Woche vorher noch Tickets für meinen Wunsch-Vorstellungsabend reserviert und saß schon im Zug. Neun Stunden war ich mit drei Zügen unterwegs ... Aber: ich hab's geschafft!

Am Ankunftsabend machte ich gleich einen großen Spaziergang durch Helsingør und bemerkte immer mal Musik aus Hinterhöfen und bunte Wimpelketten an manchen Mauern und Straßenecken. Und dann entdeckte ich dieses Plakat:




Tatsächlich fand gleichzeitig vor Ort ein weiteres Theaterfestival statt, das Passage-Festival! Ein internationales Straßentheater-Festival mit über 150 Aufführungen. Verrückt! Zurück im Hotel klickte ich mich online durch das Programm, besorgte mir ein Festivalticket (umgerechnet ca. 25 €) und begann, einen Zeitplan für meine beiden Tage zu erstellen.



Am Donnerstag wollte ich mittags diese Aufführung besuchen:
https://passagefestival.nu/en/performance/the-last-excursion/
Der nette Schauspieler wies mich vor Ort daraufhin, dass die ganze Inszenierung auf Dänisch sein wird, was mich erst mal nicht abschreckte. Doch während ich dort auf den Beginn wartete, begann es in Strömen zu regnen. In einem Moment, in dem der Regen ein bißchen nachließ, huschte ich dann doch schnell zurück ins Hotel, um meine nicht-wasserfesten Schuhe noch auf der Heizung trocknen zu können und bis zum Abend auszuharren, denn da erwartete mich der eigentliche Anlass meines Kommens: "Stormen", eine Inszenierung von "Der Sturm" im Rahmen vom Festival Hamletscenen.



Ich nutzte den verregneten Nachmittag im Hotel, um ein bißchen in Shakespeares "Hamlet" reinzulesen, fand es jedoch – Achtung, unpopuläre Meinung! – eher anstrengend. Andere Shakespeare-Stücke sprechen mich deutlich mehr an.

Wie auf Bestellung klarte abends der Himmel auf und ich packte meinen dicken Pulli, Halstuch und Regenmantel ein, um für die Freiluft-Inszenierung gewappnet zu sein. Der Fußweg vom Hotel zum Schloss waren nur ca. 15 min, also super entspannt.



Die Kulisse vor Schloss Kronborg war natürlich phänomenal. Wann hat man schon ein ganzes Schloss als Bühnenhintergrund? Die Stimmung der Zuschauenden war schon von Beginn an locker, entspannt und fröhlich. Es gab vor dem Eingang eine Einführung durch einen Schauspieler in historischem Kostüm, von der ich leider nur sehr wenig verstand, da es ein Monolog auf Dänisch war. Dennoch habe ich an seinen Lippen gehangen, weil er eine klare Aussprache und Präsenz hatte.

Mit Beginn der Inszenierung wurde mir klar, dass diese wohl etwas interaktiver werden würde und ich hatte innerlich ein bißchen Panik. Ich kam glimpflich davon mit einem Kuss auf "Ferdinands" Wange.😃
An der Inszenierung hatte ich viel Spaß. Die Kostüme waren abgedreht und bunt, die Figuren wunderbar überzeichnet und die ganze Inszenierung voller physischer Komik.



Auf dem Heimweg genoss ich den Sonnenuntergang und buchte vor dem Schlafengehen noch Tickets für die Inszenierungen am nächsten Tag um, denn ich hatte den Ticketservice noch einmal angeschrieben und Infos zu den Sprachen der einzelnen Inszenierungen erhalten.
Vom Audiowalk "Haven" (gesprochen "Haun"), der mich sehr angesprochen hatte, nahm ich leider abschied, weil ich auf Dänisch leider nicht verstehe, wohin ich gehen und was ich machen soll.





Der nächste Tag begann vormittags mit dem poetisch-witzigen Stück "L'air de rien" von Jeanne Simone aus Frankreich, in dem zwei Spieler sich mit dem Themenkomplex Geräusche, Hören und Sounds der Umgebung beschäftigten. Sie spielten mit dem Verschmelzen von Umgebungsgeräuschen des Platzes und Umgebungsgeräuschen, die vom Band abgespielt wurden. Oft konnte ich nicht unterscheiden, welches Autogeräusch gerade aus der Umgebung kam und welches abgespielt wurde. Immer wieder kreuzten irritierte Passant*innen die Spielfläche, was für uns Zuschauende eine wunderbare spontane Komik hatte.



Weiter ging es mit "La Extraordinaria" von Compagnie eLe aus Spanien, einem Marionettenstück ohne Sprache, das durch überraschende Wendungen sehr viel Humor hatte.
Das Bühnenbild war so hübsch und liebevoll gestaltet, ich hätte es am liebsten heimlich mit nach Hause genommen.




Nach einer Mittagspause im Hotelzimmer wurde ich dann selbst aktiv, nämlich bei der Performance "Mandala" von Dávid Somló aus Ungarn. Auf einem Platz vor der Kulturwerft (und direkt vor dem Schloss Kronberg) waren auf den Boden große geometrische Formen mit Kreide gezeichnet. Jede*r Teilnehmende bekam eine Form zugeordnet und sollte eine halbe Stunde auf der Linie dieser Form laufen. Tempo, Stopps, Richtungswechsel und Gangarten waren komplett uns selbst überlassen. Hauptsache wir blieben auf der Linie. Zusätzlich trug jeder von uns einen kleinen Lautsprecher in der Hand, über den eine Art Klangteppich hörbar war. '
Eine halbe Stunde auf meinem roten Kreis zu gehen, mal vorwärts, mal rückwärts, mit Stopps und Slow Motion und Rennen, empfand ich als meditativ und entspannend. Oft kreuzte mein Weg den der anderen Personen, ich hielt mal inne oder drängelte mich vor. Gegen Ende der 30 Minuten spürte ich die Bewegung aber bereits in den Füßen und freute mich auf die abschließende Reflexionsrunde.
Interessante Erkenntnis: Die Personen, die einen Kreis abliefen, fühlten sich freier und im Flow, diejenigen, die eine eckige Form hatten (ein Quadrat, Rechteckt oder Dreieck), fühlten sich eingeengter und in ihrer Bewegungsfreiheit beschnitten.



Komplett aus dem Häuschen war ich bei "Helsingørama" vom Panorama Kino Theatre aus der Schweiz, meiner allerliebsten Inszenierung. Auf dem Platz vor der Kulturwerft stand eine um 360° drehbare Box, in der ca. 20 Zuschauende auf verschieden hohen Bänken Platz nehmen konnten, mit Blick auf eine rechteckige Öffnung, die hinaus auf den Platz geht, wie eine Kinoleinwand. Dieses Fenster ist zu Beginn mit einem Vorhand zugezogen und wird erst zu Beginn der Vorstellung geöffnet. Ein super lustiges internationales Schauspiel-Ensemble bringt die Zuschauenden draußen vor der Box erstmal in Stimmung und lässt dann die Personen, die ein Ticket haben (hatte ich vorher gebucht und dann in Papierform vor Ort erhalten) in die Box hinein. In der Zwischenzeit planen Mitglieder des Ensembles im Hintergrund kleine Szenen mit umstehenden Personen, die sich gerade zufällig auf dem Platz aufhalten.
Wenn die Vorstellung beginnt, schaut man als Zuschauer*in aus dem rechteckigen Fenster auf den Platz, während die Box einmal um 360° gedreht wird. Die erste Runde ist erstmal nur zum Beobachten des Platzes. Mit jeder weiteren Runde (insgesamt 5) verändert sich das Bild. Menschen tanzen, tragen Partyhütchen, Pärchen küssen sich ... Es ist eine zauberhafte Idee, die viel Situationskomik mit sich bringt und die Welt zu einem Kinofilm macht.
Nachdem ich Zuschauerin war, habe ich bei der nächsten Inszenierung natürlich mitgespielt. In diesem Video bekommt ihr einen Einblick in die Performance:





Mittlerweile war schon früher Abend und ich schon ziemlich erschöpft, aber eine Inszenierung hatte ich noch vor mir: "La Grutesca" vom katalanischen Escarlata Circus.
Die Zuschauenden sammelten sich in einer der alten Werfthallen und es wurde angekündigt, dass wir gleich in einen kleinen Raum geführt werden, in dem es sehr eng ist. Wir sollten unsere Taschen und Jacken an einem spezifischen Ort ablegen. Okay, eng klang schonmal abschreckend, also setze ich (wie immer als einzige) eine Maske auf. Meine Wertsachen stopfte ich in meine Hosentaschen und legte dann den Rucksack in besagtem Regal ab. Leider habe ich deshalb auch kein Foto.
Jede*r Zuschauende faltete zu Beginn aus einem Zigarettenpapierchen eine kleine Figur und tauschte diese gegen einen weißen helium-gefüllten Luftballon. Dann wurden wir in 8er-Grüppchen in eine Art Mini-Zirkuszelt gefühlt und saßen auf halbkreisförmigen Bänken, alle mit unseren weißen Luftballons am Handgelenk, die über uns schwebten. Das war ein interessanter Anblick und später kamen die Luftballons auch noch auf andere Weise zum Einsatz.
In der Inszenierung ging es um das Thema "Lachen", aber sie war erstaunlicherweise gar nicht so lustig, sondern eher poetisch-gedankenvoll und angefüllt mit technischen Raffinessen (Kopfhörer, Vibrationen, Soundkulissen, Projektionen ...). Mich strengte die Inszenierung an, auch durch die beengte Situation, durch ihre Langatmigkeit und die irritierten Blicke der anderen Zuschauenden auf mich als einzige Maskenträgerin, die auch noch in der ersten Reihe platziert wurde.
Dementsprechend froh war ich, irgendwann entlassen zu werden und wieder an die frische Luft zu kommen.

Erschöpft und glücklich landete ich wieder in meinem Hotelzimmer und genoss den Abend mit absurden Fernsehsendungen und Tee.

Am Abreisetag drehte ich nach dem Auschecken noch eine kleine Runde durch den Ort, guckte mir die letzten Minuten von "Hoopelai" (Andréanne Thiboutot aus Belgien) an und kam pünktlich zum Schlussapplaus noch mal bei "L'air de rien" vorbei.

Mit Blick auf die Statuen von Hamlet und Ophelia saugte ich am Hafen den Blick auf Schloss Kronberg auf, bevor es wieder neun Stunden per Zug zurück nach Rostock ging.
Als ich zuhause ankam, hatte ich "Hamlet" zuende gelesen.


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