Der Körper & das Theater – 5 Tipps für Body Neutrality



Wir haben ein Problem mit unserem Körper. Und zwar ein ganz vehementes, tiefsitzendes Problem.

Es gibt zwei Erzfeinde, die nicht nur meine Arbeit, sondern auch unser aller Leben erschweren: Scham und Selbstzweifel.
Die beiden halten uns klein und wollen nicht, dass wir aus uns herausgehen. Sie sind super darin, uns Dinge einzureden, die gar nicht stimmen. Oder die Dinge stimmen, aber die beiden Erzfeinde tun so, als wären die Dinge schlecht.

Weil diese Erzfeinde soviel Macht haben, sorgen sie dafür, dass wir Menschen uns im Spiegel betrachten und an uns rummeckern. Uns unattraktiv finden. Uns hässlich finden. Oder im schlimmsten Fall: unser Äußeres regelrecht hassen.


Das Thema Körper beim Theaterspielen

In meiner Arbeit geht es viel um den Körper. Es geht um Körpersprache, um Ausdruck, Mimik und Gestik.
Der Körper ist für den Schauspieler das wichtigste Instrument. Er ist alles, was er hat. Mit diesem Körper muss er die schauspielerische Leistung erbringen, eine Geschichte erzählen, die Zuschauer in eine andere Welt entführen.
Es geht für ihn darum, eine Rolle zu spielen.
Diese Rolle besteht aus einem Repertoire an Eigenschaften, aus der persönlichen Geschichte der Rollenfigur, aus der Kleidung, aus der Bewegung  – und eben auch aus den körperlichen Eigenschaften des Spielenden.

Und dieser letzte Punkt offenbart in der Theaterpraxis immer wieder, wie unglaublich unzufrieden wir Menschen mit unserem Körper sind.
In all den Jahren, in denen ich Theaterarbeit mache, in denen ich Menschen den Schritt auf die Bühne ermögliche, in denen sie ganz neue Seiten an sich entdecken und in andere Rollen schlüpfen, war und ist das Thema Körper omnipräsent.
Sehr viele sind unzufrieden mit ihrem Körper, ihrer Figur, ihrer Haut, ihren Haaren, ihrem Gesicht. Diese Unzufriedenheit wird oft artikuliert – besorgt, ängstlich, traurig oder auch provokant.
Bei der Kostümplanung, bei der Beleuchtung, beim Schminken, beim Frisieren, beim Fotografieren, bei den Proben, beim Aufwärmen, beim Filmanschauen, beim ...

Es ist ein ständiges Thema im Kopf vieler Teilnehmer. Meist kommen die Sorgen aus dem Munde der Frauen, aber auch Männer haben diese Gedanken.

Das Problem ist, dass diese Gedanken wichtige Ressourcen beeinträchtigen:
unsere Konzentrationsfähigkeit, unser Selbstvertrauen, unsere Aufmerksamkeit, unsere sozialen Fähigkeiten, unseren Mut und unsere Kraft.
Die negativen Urteile beanspruchen wahnsinnig viel Platz in unserem Kopf, blähen sich auf wie ein großer Ballon, der alles andere verdrängt, und berauben uns unserer Energie. Der Energie, die wir eigentlich für die Bühne brauchen.

Denn auf der Bühne geht es nicht um Schönheit. Es geht um Menschen, um Emotionen und Geschichten.

Unsere negativen Gedanken sitzen meist tief und fest verankert und lassen sich nicht einfach wegzaubern.
Und leider sind wir ziemlich gut darin, diese negativen Gedanken auch immer wieder zu erneuern und zu verstärken.


Ist Body Positivity die Lösung? 

Seit einer Weile gibt es den Begriff der "Body Positivity". Gemeint ist damit, den Körper positiv zu betrachten. Den Fokus also nicht auf die Makel zu lenken, sondern auf die positiven Stärken des eigenen Körpers zu richten. Für manche bedeutet es auch, den eigenen Körper zu lieben und ihn mit einem liebevollen Auge zu betrachten. Oder vereinfacht gesagt: mit seinem eigenen Körper im Reinen zu sein.

Body Positivity ist ein tolles und wichtiges Ziel.
Dieses Ziel ist jedoch nicht leicht zu erreichen. Wir sind umgeben von gesellschaftlichen Standards und unreflektierten Meinungen, wie wir Menschen auszusehen haben.
Hinzu kommen Fotos und Filme, die uns perfekte Körper zeigen, die es in der Realität gar nicht gibt. Denn was wir immer wieder vergessen: Posen, Profi-MakeUp, Filter und Photoshop sind der Standard in der Modefotografie, aber auch auf Instagram und anderen sozialen Plattformen.


Body Neutrality als Alternativ-Ziel

Eine andere Haltung ist die Body Neutrality. Sie könnte als eine Vorstufe zur Body Positivity betrachtet werden, aber ich sehe sie als eine eigenständige Geisteshaltung, die uns aus unseren negativen Denkmustern herauszieht.

Statt den eigenen Körper unbedingt positiv zu betrachten, reicht es nämlich auch, ihn einfach neutral zu zu sehen. Ohne Bewertung. Er IST einfach.


Wenn wir aufhören, unseren Körper ständig zu vergleichen und abzuwerten, dann schaffen wir es irgendwann, eine Egal-Haltung zu entwickeln, ihm neutral gegenüber zu stehen. Ihn als das akzeptieren, was er nunmal ist: einfach nur unser Körper.







Für´s Theaterspiel ist Body Neutrality eine gute innere Haltung. Der Körper ist unser Gestaltungsmittel, er ist unser bestes und einziges Instrument.

Über die Jahre habe ich gemerkt, was einer neutraleren Einstellung dem Körper gegenüber hilft. Hier meine 5 besten Tipps, wie ihr zu mehr Body Neutrality kommt:



1. Viele Fotos & Filme von sich selbst angucken

Wenn wir Probleme mit unserem Äußeren haben, neigen wir dazu, Fotos und Filmaufnahmen von uns selbst zu meiden. Wir haben Angst, uns selbst anzusehen, all unsere Makel buchstäblich vor Augen geführt zu bekommen.
Und genau an dieser Angst können wir ansetzen und uns so viele Fotos und Videos von uns angucken wie möglich. Immer und immer wieder. Und Doppelkinn, schiefe Zähne, blasse Haut, Pickel, Falten und Hängebauch ganz genau betrachten.
Im Spiegel nehmen wir uns anders war und haben eine andere Perspektive auf uns selbst. Erst auf Fotos und Filmaufnahmen sehen wir uns so wie andere uns sehen.
Am Anfang kostet es wahnsinnig viel Überwindung, aber irgendwann gewöhnen wir uns an den eigenen Anblick. Das da bin ICH. Mit allem, was an mir dran oder nicht dran ist. Get over it!



2. Sich selbst anhören

Auch die Stimme gehört dazu. Die wenigsten Menschen hören sich gern auf Band. Man klingt dann ganz anders als man sich selbst hört: höher, metallischer, eigenartiger.
Sprich Texte und Gedanken auf dein Handy und höre dir die Aufnahmen immer und immer wieder an. So oft bis du dich an den Klang deiner Stimme gewöhnt hast.



3. Andere Körper nicht mehr bewerten

Einer der schwierigsten Punkte. Wir alle haben Idealbilder im Kopf und wir alle bewerten ständig andere Menschen. Unser Gehirn macht das automatisch, wir können es kaum steuern.
Aber wir können unsere eigenen Gedanken hinterfragen. Warum denke ich gerade, dass diese Person keinen Bikini tragen sollte, weil ihr Bauch dick ist? Warum darf sie in meinen Gedanken nicht tragen, was sie will?
Je öfter wir unsere bewertenden Gedanken, die wir anderen gegenüber haben, hinterfragen, desto entspannter werden wir auch mit uns selbst. Denn mal ehrlich: für unsere Gedanken gibt es keine andere Begründung als "weil man das so macht" oder "weil es nicht schön ist". Aber es gibt keinerlei Grund, etwas zu tun, nur weil "man" etwas so macht. Und ob ich etwas schön oder nicht schön finde, ist für den anderen irrelevant. Wir haben keine Verpflichtung schön zu sein!

Mit der Bewertung sind nicht nur die Gedanken gemeint. Ausgesprochene Bewertungen und Regeln haben einen unglaublich starken Einfluss auf unsere Mitmenschen, auch wenn wir nicht direkt über sie sprechen. Alles, was wir über andere Personen sagen, speichert unser Umfeld ab.
Besonders toxisch sind allgemeine Aussagen wie: "Als Frau sollte man die Beine rasieren." oder "Als dicker Mensch sollte man keine enge Kleidung tragen."



4. Improvisation mit dem Körper

Weil unser Körper uns so peinlich ist, wissen wir oft gar nicht, was wir mit ihm alles anstellen könnten. Körperliche Improvisationsübungen helfen uns, ein eigenes (positives) Gefühl für unseren Körper zu entwickeln. Wir können mit unserem Körper die eigenartigsten und absonderlichsten Bewegungen machen. Wir können mit unserem Körper andere Menschen und uns selbst zum Lachen und zum Weinen bringen.
Wenn wir mit unserem Körper und seinem Bewegungsreichtum improvisieren, beginnen wir eine ganz neue Seite an ihm zu schätzen.
Ausprobieren könnt ihr das besonders beim Physical Theatre (z.B. bei Inka Theatre), bei der Kontaktimprovisation (ist aber eher für die besonders Mutigen) und auch beim normalen (Improvisations-)Theater (z.B. beim Vorglühen).



5. Andere Kleidung tragen – außerhalb der Komfortzone

Die meisten haben einen ganz bestimmten Kleidungsstil, den sie bevorzugen. Sie bemühen sich oft, Kleidung zu tragen, die ihre körperlichen Vorzüge betont und ihre Makel kaschiert, um dem gängigen Schönheitsideal stärker zu entsprechen.
Der Wunsch ist absolut nachvollziehbar, denn unser Streben nach Schönheit ist extrem stark ausgeprägt.
Wenn wir jedoch ständig die Körperteile verdecken, die wir als unschön empfinden, nehmen wir uns die Chance das vorherrschende Schönheitsideal – das uns doch eigentlich so unter Druck setzt – zu verändern. Je weniger wir Dinge wie Cellulite, unreine Haut, Narben und andere "Makel" auf der Straße sehen, desto schneller vergessen wir, dass es sie überhaupt gibt. Durch unser Verstecken befördern wir den Perfektheitsdruck nur noch und verhalten uns kontraproduktiv. Also los: Zeigt eure Makel!


Lasst uns eine angenehmere und entspanntere Haltung gegenüber unseren Körpern finden. Sie werden es uns danken!


Zum Schluss noch ein paar Links, wenn ihr noch mehr Artikel zu den Themen Körper, Body Neutrality, Body Positivity lesen wollt:

3 Dinge, die ich vom Theater für´s Leben lernte – "Body"-Issue

Was ist Body Neutrality?

Was ist Body Positivity?

Tits are the new tits (auf deutsch)

5 Gründe, weshalb ich meine Achselhaare wachsen lasse

Warum nicht nur Frauen Body Positivity brauchen 

Was Body Shaming mit uns Männern macht

Instagram vs. Reality 

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