Ich möchte kein dickes Fell haben.





Gestern Abend saß ich in meinem Flur auf dem Boden und stöberte in alten Notizbüchern von meiner Ausbildung zur Theaterpädagogin, auf der Suche nach vergessenen Übungen, die ich mal wieder in meine Proben oder Workshops einbauen könnte.
Auf den letzten beschriebenen Seiten fand ich das Feedback zu meinem Praktikumsbericht.

Für den Abschluss als Theaterpädagogin war ein Praktikum im Theaterbereich zwingend und ging mit einem Praktikumsbericht einher.
Um das Schöne mit dem Nervigen zu verbinden, hatte ich mir damals ein Praktikum in meiner Lieblingsstadt Wien besorgt. Vier Wochen in einem Sommertheater im Herzen der Stadt.

Das Praktikum entpuppte sich schon ab dem ersten Tag als unglaublich langweilig. Mir wurde bei der Bewerbung gesagt, dass sie sich über jede helfende Hand freuen, aber als ich dort war, gab es keinerlei Aufgaben für mich. Jeden Tag fragte ich nach, aber es gab nichts zu tun, außer ab und zu ein Getränk für irgendjemanden aus dem Kühlschrank zu holen. Oder das klassische Kaffeekochen. Diese zwei Aufgaben durfte ich mir zudem mit zwei weiteren Praktikantinnen teilen, die genauso unterbeschäftigt waren wie ich.
In den vielen Stunden, die ich einfach nur mit meinem Notizbuch in irgendeiner Ecke saß, hatte ich Zeit, die Strukturen und Verhaltensweisen des Teams zu beobachten. Es war ein kleines Team, bestehend aus einer Handvoll Schauspielern, dem Regisseur, dem kaufmännischen Leiter, einer Technikerin, einem Musiker und der Regie-Assistentin. Letztere hat 90% der Arbeit gemacht, sie wurde auch wie selbstverständlich mit allen Aufgaben überschüttet.
Der Regisseur war ein unangenehmer Mensch. Geltungsbedürftig, selbstgefällig und übergriffig. Ich sah, wie er ständig den Arm um die Frauen im Team legte, eine Schauspielerin auf seinen Schoß zog und ständig irgendwem Küsschen gab.
Belästigung, Sexismus, Ausbeutung und Machtmissbrauch standen auf der Tagesordnung, in netter und charmanter Verpackung daherkommend und deshalb ganz unauffällig.
Mir behagte das nicht. Ich selbst hatte Glück und wurde "verschont", aber ich hatte keine Lust, meine kostbare Zeit in diesem Theater totzusitzen und mir dieses unangenehme Arbeitsumfeld anzuschauen, ohne Aufgabe und ohne eine Möglichkeit, etwas zu lernen.

Wobei, ich hatte etwas gelernt: dass der Theaterbetrieb nicht mein Bereich ist und ich in so einem Umfeld nicht arbeiten möchte.
Nach anderthalb Wochen hatte ich keine Lust mehr, brach das Praktikum ab und suchte mir für den restlichen Zeitraum spontan zwei neue Praktika, Theater-Ferienangebote für Kinder.

In meinem Praktikumsbericht stand nichts von der Übergriffigkeit, nichts von Belästigung. Es brauchte Jahre bis ich verstand, was ich da gesehen hatte und es benennen konnte.
Aber ich hatte mich in meinem Bericht darüber beklagt, dass ich nichts zu tun hatte und dass die Aufgabenverteilung extrem ungerecht und der Regisseur nervtötend und anstrengend war. Dass mir all das keinerlei Freude bereitete und ich deshalb wechselte.

Meine beiden Dozentinnen kamen aus dem Theaterbetrieb und waren nicht zufrieden mit meiner Entscheidung, das Praktikum abzubrechen. Sie meinten, dass solche Erfahrungen eben dazu gehören, dass man da durch muss und wir ja genau deswegen das Praktikum machen sollen.
Sie sagten, dass ich halt eine andere Generation bin, aber dass man so kein dickes Fell entwickelt.


Damals wusste ich nicht so recht, was ich dazu sagen soll. Gestern abend beim Lesen der Feedback-Notizen wusste ich es:



Ich möchte kein dickes Fell haben.

Ich möchte auf Augenhöhe arbeiten, ich möchte Wertschätzung für meine Arbeit und ein ehrliches Umfeld.
Ich möchte keine Spielchen, keine Intrigen, keine Ausnutzung und keinen Sexismus bei der Arbeit ertragen müssen.
Ich möchte nicht "durch etwas durch müssen". Denn das "Da musst du durch"-Prinzip ist Bullshit.
Hindurch-Müssen impliziert, dass einen auf der anderen Seite etwas besseres erwartet. Etwas, das nicht so ist wie das, durch das ich "durch muss". Doch da gibt es nichts. Man kommt nirgendwohin, wo es schöner ist, wenn man sich ein dickes Fell zulegt.
Es wird immer gleich bleiben und vielleicht sogar schlimmer werden. Und je dicker das Fell ist, desto mehr nehmen sich die anderen heraus. Weil sie können. Und weil nie jemand sagt: nicht mit mir!

Wenn wir uns alle ein dickes Fell antrainieren, dann wird sich nie etwas ändern. Dann bleibt es einfach genauso scheiße wie es ist.
Genau deshalb wird es einem ja auch immer wieder vorgeschlagen. Weil keine Veränderung der Situation gewünscht ist. Weil bitte jeder an dem ihm angestammten Platz bleiben soll. Und weil jeglicher Aufstand eine Gefahr bedeutet. Dir passt etwas nicht? Dann bist du einfach zu sensibel und brauchst ein dickeres Fell. Das IST HIER EINFACH SO.

Anstatt zu fragen, warum jemand nicht bereit ist, etwas auszuhalten, sollten wir doch lieber fragen, warum er es überhaupt aushalten soll? Was hat er davon? Irgendwann in eine Position zu kommen, aus der heraus er sich für das erlittene Leid rächen kann? Auf Kosten der eigenen psychischen und phsyischen Gesundheit?
Das kann man machen. Muss man aber nicht.

Ich verzichte gern.
Ich möchte kein dickes Fell.

Oder wie einer meiner Kunden heute so schön sagte: "Ich bin mit meinem dünnen Fell ganz zufrieden."


Foto: Sarah Bansemer in "Weiße Katze"

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