Gastkritik: "Herr der Fliegen: survival mode" - Junges DT, Deutsches Theater Berlin

WTF??? Was machen die Kinder da vorn? Selten so eine Energie auf der Bühne gesehen!
"Herr der Fliegen" ist hart und gleichzeitig genial. Mein Begleiter und ich sind hin und weg.
Und weil wir so angetan waren, wurde die Inszenierung weiterempfohlen. Stefan Matzke, ehemaliger GROBKOST-Mitspieler und aktuell Spieler bei den Polyrealisten an der Schaubühne (Aufführungen sind am kommenden Wochenende, 10./11./12. Juni: KLICK) hat eine Gastkritik geschrieben:



Das Junge DT verbindet in „Herr der Fliegen: survival mode“ den Buchklassiker von William Golding mit dem Computerspiel „Minecraft“. Im Roman findet sich eine Gruppe von Schuljungen auf einer unbewohnten Insel wieder, einer Welt ohne Erwachsene. Die Kinder erkunden die Insel, bauen Hütten, machen Feuer, jagen Schweine. Doch bald taucht ein Monster auf, Rivalität und Jagdtrieb eskalieren zu einem Kampf um Leben und Tod. Minecraft ist wie Lego am Bildschirm. Die Spieler starten ihre Entdeckungstour in einem gestaltbaren Pixelparadies. Aus limitierten Ressourcen erschaffen sie neue Welten. Doch bei Einbruch der Nacht tauchen auch hier Monster auf und im Überlebensmodus müssen Gefahren und Gefechte überstanden werden. Robert Lehniger verbindet Analoges und Digitales und erkundet mit dem jugendlichen Ensemble, in welcher Welt wir leben wollen. Welche Regeln sollen gelten? Was macht mehr Spaß, Konstruktion oder Destruktion, Kooperation oder Kampf, Zivilisation oder Anarchie? Brauchen wir einen Anführer? Wer soll das sein?


Beim Betreten des Raumes ist das Spiel bereits im Gange. Einzelne Inseln aus Paletten, Kissen, Couches und Schreibtischen sind mit Zweier- bis Dreiergrüppchen von SpielerInnen besetzt. Sie spielen Minecraft, ein Open World Game mit 100 Millionen registrierten Usern. Kommandos, Hilfestellungen, Absprachen durchziehen den Raum. Beiläufige Blicke ins Publikum. Über der Bühne hängen zwei groß dimensionierte Screens. Spielverläufe, Profile der Spieler, Exkursvideomaterial wird dort synchron oder zeitversetzt gezeigt.


Die Insel im Roman ist keineswegs die Bühne. Das Spiel ist die Welt, in der sich die SpielerInnen bewegen, Konflikte ausfechten. Verhaltensweisen und Handlungen in der digitalen Welt werden in der realen Welt zu haptischen Wirklichkeiten. Es bilden sich Lager, konstruktive Ansätze eines Zusammenlebens prallen auf dekonstruktiven Kampf ums Überleben, des Auslebens der Macht des Stärkeren. Wie wird das Stück ausgehen? Werden Spielavatare oder auch Realmenschen verletzt oder gar getötet? Gewalt als Mittel der Festlegung einer Rangordnung lässt Parallelen zum Tierreich aufkommen.


Die Beobachtung eines spielenden Menschen steht im Mittelpunkt. Das Spiel selbst ist Dekoration, Auslöser von Konflikten, Überbau mehrerer Fragen - muss es überall Regeln geben? Kann man vielleicht besser ohne diese auskommen? Muss eine mit Regeln durchzogene Erwachsenenwelt in jedem Bereich das Sagen haben? Wissen die SpielerInnen, dass sie spielen? Können sie unterscheiden zwischen fiktiver und realer Welt? Ist es gefährlich, hier ohne Regeln zu handeln? Was ist größer: Die Lust, die Sachen von anderen kaputt zu machen oder der Wunsch miteinander zu kooperieren? Ist die Anwendung von Gewalt notwendig, um sich zu behaupten?


In einem Interview berichtete der Regisseur Robert Lehninger, dass sein Sohn in Tränen ausbrach, als seine Schafe im Spiel von einem anderen Spieler getötet wurden. Haben digitale Probleme reale Auswirkungen? Wo verläuft die Grenze? Ist diese Grenze nicht vielleicht vollkommen irrelevant? Wie fühlen sich Kinder in einer Welt, in der kein Erwachsener Zutritt hat? Wie fühlen sich Erwachsene, keine Kontrolle über ihre Kinder zu haben?


Ein komplexer, dicht inszenierter Abend, der den Zuschauer von Anfang an fesselt. In mehreren räumlichen Ebenen wird eine Spielwelt aufgebaut. Realszenen werden mit Digitalszenen im Spiel verschnitten. Tanzchoreografien und Filmsequenzen ergänzen das komplexe Konstrukt. Die Drehbühne mit Wasserfall setzt die Komplexität im Bühnenbild fort. Dieses Übermaß hätte es nicht unbedingt gebraucht. Der Versuch mehrerer Ebenen von Real- und Digitalwelten zu verbinden, wäre hinreichend durch das Nebeneinander von Realszenen und Projektionen gelungen. Im Gegenteil, der Einsatz zu vieler Elemente wirkte in Teilen zu gewollt. Nichts desto trotz erzeugen die SpielerInnen durch ihre Authentizität eine starke Energie im Raum. Nicht nur die Gewaltszenen werden umso eindrücklicher, wenn sie durch Kinder vollzogen werden. Die Sympathie der Beiläufigkeit wird mit abstrakt choreographierten Elementen vermischt. Die Komplexität des Abends nimmt den Zuschauer zu jeder Zeit durch den Überbau des Romans von William Golding mit.
„Herr der Fliegen: survival mode“ vom jungen DT wird zu einer lang nachwirkenden Theatererfahrung.


Autor: Stefan Matzke

herr der fliegen: survival mode - teaser from superjeans on Vimeo.

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